Damit Sie eine Vorstellung von meinem Schreibstil haben:
Krähen I
Beat Haas
Ein Mann stoppt mich auf dem Trottoir des Sihlquais. Ob ich ihm helfen könne? Ob man jemanden anrufen müsse? Da sehe ich die Krähe mitten auf der Fahrbahn. Die Flügel ausgebreitet, versucht sie zu hüpfen, torkelt und fällt immer wieder seitlich zu Boden. Die Autofahrer haben angehalten, bereits hat sich eine Kolonne gebildet. Ich halte an und steige vom Fahrrad. Bevor man jemanden anrufen kann, muss der Vogel von der Fahrbahn, denke ich, und bin gespannt, wie er es aufnehmen wird, in die Hände genommen zu werden. Erstaunlich gut, stelle ich fest, er wehrt sich überhaupt nicht, sondern lässt es mit sich geschehen. Keine Spur von erhöhtem Herzschlag, dünkt mich. Ist er einfach zu erschöpft? Der Mann, ein Velokurier, muss arbeiten gehen, doch er anerbietet sich, mein Fahrrad ans Trottoirgeländer zu schliessen. Ich mache mich auf zum nächsten Polizeiposten in der Wohnsiedlung Limmat. Diesmal ist der Slogan passend, finde ich, die Polizei, dein Freund und Helfer. Ich gehe davon aus, dass sie sich um den verletzten Vogel kümmern werden. Wenn ich bisher die Rufe der Krähen auf den nächstgelegenen Bäumen zwar gehört, aber nicht wirklich in meine Aufmerksamkeit einbezogen hatte, so zwingt mich nun ein einzelner Krähenvogel dazu, es zu tun, indem er schreiend einen Tiefflugangriff nach dem andern ausführt und knapp über meinen Kopf hinweg fliegt. Die Mutter, der Bruder oder der Bräutigam ist offensichtlich nicht damit einverstanden, dass ich diesen einen Artgenossen wegtrage. Die Polizisten nehmen das Tier bereitwillig in ihre Obhut. Wir tun ihn in eine Kiste, sagt der eine. Wir bringen ihn in die Volière im Arboretum, sagt der zweite. Mir fällt auf, dass er Gummihandschuhe anzieht, um den Vogel in Empfang zu nehmen. Dass dieser sich hartnäckig mit dem Fuss an meinen Finger klammert, versuche ich als Zeichen dafür zu nehmen, dass er sich bei mir wohlgefühlt hat und nicht erfreut ist, in andere Hände überzugehen. Ich hätte es gerne als einen Ausdruck persönlicher Zuneigung verstanden. Als ich zu meinem Fahrrad zurückgehe, muss ich feststellen, dass die Abneigung der zurückgebliebenen Krähen durchaus persönlich ist. Wieder beginnen die Tiefflüge über meinen Kopf hinweg, bis ich mich weit genug von den Bäumen des Krähenreviers entfernt habe.
Krähen II
Beat Haas
Auf der Rudolf-Brun-Brücke, als ich zur Arbeit ging, sah ich in einiger Entfernung vor mir eine Krähe, die auf dem Trottoir auf und ab hüpfte. Sie war offensichtlich mit einem Gegenstand beschäftigt, den sie mit ihrem Schnabel bearbeitete, in die Höhe hob, zur Seite warf und weiter traktierte. Bei diesem Gegenstand handelte es sich, wie ich beim Näherkommen sehen konnte, um ein in Plastik eingeschweisstes Paar Cervelats. Gespannt setzte ich meine Schritte fort, gespannt darauf nämlich, wie nahe mich der Vogel herankommen liesse, bis er seinen Schatz vernachlässigen und sich in Sicherheit bringen würde. Erstaunlich nahe, fand ich. Zwar fasste er mich schon bald ins Auge, aber verharrte hüpfend bei seinen Würsten, bevor er schliesslich aufs Brückengeländer flog. Ich machte einen Bogen um seine Beute und blickte das Tier an, als ich an ihm vorbei ging. Auch die Krähe liess mich nicht aus den Augen. Es war in diesem Moment, als ich mich fragte, ob es nicht doch möglich sein könnte, mit einer Krähe zu sprechen. So wie es der Ethnologe Michael Opitz in seinem langen Film über ein nepalesisches Dorf zeigte, wo er mit einem Schamanen sprach, der sich gerade mit einem Raben auf einem nahen Baum unterhielt. Was der Rabe von den Filmaufnahmen im Dorf halte, fragte der Ethnologe den Schamanen. Der Rabe glaube, es sei eher eine gute Sache, sagte der Schamane. Ob er glaube, dass der fertige Film für das Dorf von Vorteil sein werde, war die Anschlussfrage des Filmers. Ja, antwortete der Schamane, der Rabe denke, dass der Film für das Dorf eher von Vorteil sein werde. Wenn ich die Krähe nun gefragt hätte, was sie von uns Menschen denke und unserer kuriosen Art zu leben? Und mir vorstellte, was sie darauf hätte antworten können? Dann hätte ich mich zwar nicht mit ihr unterhalten, aber mir selbst klarer gemacht, welche Fragen mich beschäftigten und welche Antwort darauf immerhin möglich wäre. - Der Rabenvogel hatte sich wieder auf seine Beute gestürzt.
Krähen III
Beat Haas
Pierrot lernte ich in Paris kennen, auf einem Nachmittagsspaziergang in der Umgebung des Hotels Ibis Gare de l’Est. Ich hatte mich von den befahrenen Boulevards Magenta und Strasbourg in Richtung Canal St. Martin entfernt, ruhig war es trotzdem nicht, da zur Rechten in einer tiefen Baugrube Bagger und Lastwagen am Arbeiten waren. Pierrot sass auf einer Bauabschrankung neben dem Trottoir, und ob er wirklich Pierrot hiess, weiss ich nicht, nicht einmal, ob er überhaupt einen Namen hatte. Ob er ihn mir genannt hätte? Pierrot war eine Krähe, schwarz und glänzend gefiedert. Ich freute mich, wie man sich freut, wenn man unerwartet einen vertrauten Kollegen trifft. Man kennt sich nicht sehr gut, aber es ist klar, dass man stehen bleiben und sich für eine Weile unterhalten wird. Da ich nicht wusste, ob Pierrot dasselbe empfand, näherte ich mich ihm nur langsam, Meter für Meter, gefasst darauf, dass er sich mit den Füssen abstossen und davonfliegen würde. Er tat es nicht. Er hielt den Kopf gesenkt und hatte ein Auge mir zugewandt. Sehr gerne hätte ich gewusst, was er in diesem Augenblick dachte (wissend, dass ein Vogel eben wohl nicht denkt). Als ich auf zwei Meter zu ihm herangekommen war, begann ich mit ihm zu sprechen. Hallo, hallo, du bist ein schöner Vogel, ja, ja, ein schöner Vogel, ein sehr schöner Vogel, geht es dir gut, ja, ja, ich denke, es geht dir gut, ein schöner Vogel, ein sehr schöner Vogel. Dabei kam es nicht auf die Wörter an, diese verstand Pierrot nicht. Wichtig waren die „Akzente einer entschiedenen Billigung seiner Existenz“, die ich in meine Stimme zu legen mich bemühte, so wie es Thomas Mann im Umgang mit seinem Hund zu tun pflegte. Wäre Pierrot davongeflogen, wenn ich nicht mit ihm gesprochen hätte? Nur einen Meter stand ich von ihm entfernt, zog meinen Rucksack aus und holte den Fotoapparat hervor. Pierrot schaute zu. Dann stellte er sich auf das rechte Bein, neigte sich nach vorn und streckte den linken Flügel aus. Dasselbe mit dem linken Bein und dem rechten Flügel. Und wieder Ruhe. Schöner Vogel, braver Vogel. Ich fotografierte ihn, vier-, fünf-, sechsmal, jedes Mal einen kleinen Schritt näher. Schöner Vogel. Ihn berühren? Dann würde er erschrecken und wirklich davonfliegen. Ruhig gehe ich ein paar Schritte rückwärts. Schöner Vogel, ja, ja.